Helden des Holzplattenovals.
Schöner Text. Von Ulrich Kaiser. Hier gesehen: www.zeit.de/helden
„Szenen beim Sechstagerennen.
- November 1975, 7:00 Uhr
Als Eddy Merckx, der auf den Plakaten als „Superstar“ angekündigt ist, im tausendsten Interview seine tausendste Platitüde hersagt – „Ich freue mich, in München zu sein. Ich fühle mich gut in Form. Es wird sicherlich ein gutes Rennen. Es ist eine schöne Halle. Es ist ein hartes Leben. Es ist ein schöner Sport. Ich würde alles noch einmal so machen in meinem Leben“ –, als Superstar Eddy also längstgesagtes wiederkäut, hat der Direktor der Münchner Olympiahalle noch Bedenken. Werner Göhner, bei dem sich zumindest wegen des schönen Zeltdachs der Vergleich mit dem Zirkusdirektor anbietet, hat vom Vorstand der Olympiapark GmbH mehr oder minder offen ein Ultimatum gestellt erhalten: Entweder wird dieses Sechstagerennen ein Erfolg oder wir lassen es künftig bleiben. Göhner ist Vizepräsident im Bund deutscher Radfahrer und möchte dieses Rennen gerne behalten – dagegen sprechen hohe Verlustzahlen aus dem Jahre 1972 und 1973 sowie ein „gerade-nochblaues-Auge“ von 1974. Das Sechstagerennen 1975 – das Vierte in der Münchner Olympiahalle – kostet eine gute halbe Million Mark.
Merckx fährt jede Nacht für ein Honorar von zehntausend Mark, dazu kommen Prämien. Er wird in dieser knappen Woche 80 000 Mark einnehmen. Der Jung-Profi Horst Schütz erhält 700 Mark pro Nacht und mit den Prämien ist es auch nicht so besonders. Masseure, Monteure und Material müssen sie natürlich selbst bezahlen, auch das Essen. Laut Vertrag dürfen sie während sechs Tagen und Nächten die Halle nicht verlassen. Nach der Neutralisation irgendwann nach Mitternacht begeben sie sich zum Schlafen in eine Kammer in den unteren Hallen-Katakomben – diese Zelle ist frei.
An der Theke in der Mitte der Halle wird – so sagt der Wirt – der meiste Umsatz gemacht. Es gibt Bier in Pappbechern für einsachtzig, Würstchen für zwofuffzig, Schinken- und Fischsemmeln. „Heute habe ich zwölftausend Semmeln machen lassen, und die sind fast weg“, sagt der Wirt gegen Mitternacht. Um die Zeit findet das Rennen hinter den Derny-Mopeds statt. Eddy Merckx versucht mit seinem Schrittmacher oben durchzukommen, aber drei Gespanne vor ihm blockieren, nebeneinander liegend, die gesamte Bahn. Dann zieht einer der drei plötzlich zwanzig, dreißig Meter davon – die Leute schreien „Sigi“, denn Sigi Renz ist Münchner. Aber mit nur zwei Gespannen kann man die gesamte Bahn nicht so blockieren und da findet Eddy Merckx unten irgendwo hindurch und verfolgt den Sigi Renz. Die beiden Übertölpelten drohen mit den Fäusten, aber das sieht Superstar Merckx nicht mehr. Er gewinnt knapp vor Renz. Es sind mindestens dreizehntausend Menschen in der Halle und die schreien jetzt alle „Eddy“. Vorher hatten sie ähnlich laut geschrien, als Franz Josef Strauß kam – der gleiche Applaus war auch der gesamten Fußball-, Film- und Flitter-Schickeria zuteil geworden, die sich in den Logen an der Seite zur Besichtigung freigab. Nur James Graser, den sie in München den Alt-Playboy nennen, hatten sie ausgepfiffen, weil er sang. Graser hat in diesen Tagen in der Halle eine Filiale seines Nachtlokals, der Raum ist eine Turnhalle, die man über vielerlei Treppen erreicht. Die Ringe der Turner und den Korb für das Basketballspiel hat man an die Decke gezogen und weils fast stockduster ist, sieht man’s kaum. Einer legt laute Schallplatten auf und es wird getanzt. Die Kellnerinnen hat man in Bunny-Kostüme gesteckt, es handelt sich um altbewährte Routiniers dieses Gewerbes, und wenn manchmal das rote Tangolicht angemacht wird, sehen sie mit ihren Hasenlöffel-Attrappen auf dem Kopf wie reife Indianer aus. Meine Frau, die eine Süddeutsche ist, ist davon überzeugt, daß wir uns im „Austragstüberl“ von Hugh Hefner befinden.
In der großen Halle indessen hat Gerd Müller oder Willi Millowitsch oder Roberto Blanco oder Karin Dor oder auch der Direktor Göhner schon längst wieder eine Jagd „angeschossen“. Bei den kleinen Prämien lassen die Stars es ruhiger angehen, damit die anderen auch „mal etwas gewinnen“ – so von viertausend Mark aufwärts zeigen sie dann selbst Interesse. Klaus Bugdahl, der Berliner, bestreitet sein 200. Sechstagerennen. Er hat etwa drei Jahre und vier Monate weiter nichts getan, als gestrampelt – immer linksherum auf dem Holzplattenoval. 1956 fing er damit an im Berliner Sportpalast, den es nicht mehr gibt. Er fuhr mit 66 verschiedenen Partnern – Arnold, Terrazzi, Carrara, van Steenberghen, Altig, er überlebte ganze Generationen. Er überlebte auch ein dutzend Knochenbrüche, Gehirnerschütterungen, natürlich Platzwunden. Bugdahl ist jetzt 41 Jahre alt.
„Die Leute sagen, ick lache nich – die sagen, ick geh in Keller, wenn ick lachen muß, damit’s keener sieht. Dabei find ick hier ooch nischt zum lachen. Is mein Beruf – wa!?“ Das wird Klaus Bugdahl später sagen. Im Moment hängt er sich in das flitzende Gewühle, blockt für seinen Partner einen Verfolger mit einem kaum spürbaren Schlenker ab. Die eigentliche Jagd findet weiter vorn statt. Da gibt es vor allem den Heidelberger Günter Haritz, Weltmeister und Olympiasieger als Amateur, der jeden Kampf aufnimmt, den Eddy anzettelt, der ihn attackiert, der ihn immer wieder zwingt, vor der überlegenen Kraft zu zehren. Haritz hat sicherlich mehr Freunde unter den Fahrern als der Superstar. Einer, der 10 000 Mark in der Nacht bekommt, hat immer wenig Freunde. Außerdem wäre Günter Haritz als Sieger nicht schlecht: Man braucht einen neuen Lokalmatadoi in München, da Sigi Renz älter geworden ist – Haritz wäre der richtige Mann dafür.
Keiner nimmt Sechstagerennen so ernst wie es die Rennfahrer oder die Veranstalter gern hätten. Keiner kann allerdings auch bestreiten, daß eine sechstägige Radtour bei Geschwindigkeiten von teilweise über fünfzig Stundenkilometer! eine strapaziöse Leistung darstellt. Eine strapaziöse Leistung ist es allerdings wohl auch, wenn einer einen Weltrekord im Fahnenmastsitzen aufstellt. Oder wenn Catcher aus dem Stand einen Salto springen. Keiner weiß, wie ernst denn eigentlich der Wettkampf dabei ist. Das heißt: Einige wissen es und sagen, es sei alles abgesprochen – jede Runde. Das gibt dann so kuriose Fehden wie die zwischen der Olympiapark-Gesellschaft und der sporterfahrenen Redaktion der „Süddeutschen Zeitung“, die das Spektakel ins Lokale abschiebt, zweite Seite unten.
Ludwig Hörmann ist in München das, was man einen „sportlichen Leiter“ nennt. „Wiggerl“, der selbst solche Rennen fuhr und gewann, dessen Sprinterbuckel den Velo-Fans heute noch ein Zungenschnalzen entlockt – Wiggerl Hörnann schreibt täglich in der „tz“, auch über „Schiebung oder nicht?“: Er spricht von Kombinationen, die möglich sind, wobei er wohl Kombinen meint. Es könnte einer dem Haritz seinen Rücken als Windschutz leihen, oder den Merckx bremsen. Solche Hilfen würden nicht mit barer Münze bezahlt, sondern mit anderen Freundlichkeiten beim nächsten Rennen. Das hätte – so Hörmann – schon 1947 sein Bruder gemacht, aber leider zu auffällig, so daß er eine Verwarnung wegen Passivität erhielt.
Als das in der Zeitung stand, braucht der Direktor vor dem Ultimatum seines Vorstandes keine Angst mehr zu haben. Das Münchner Sechstagerennen hatten knapp 80 000 Menschen besucht. Sie hatten 40 000 Liter Bier getrunken, 18 Zentner Leberkäs, 35 000 paar Würstchen, 45 000 Semmeln und 6400 große Brez’n gegessen. Natürlich wird man nächstes Jahr erneut dieses Ding veranstalten. Ob Eddy Merckx wiederkommt, steht nicht fest, er will ja jetzt aufhören. Drei Tage nach München begann das Rennen in Münster.
Achtundzwanzig Minuten vor dem Schluß in München lagen die Paare Eddy Merckx/Patrick Sercu und Günter Haritz/René Pijnen im Gleichlauf mit Rundenvorsprung vor dem Feld. Dann stürzte Haritz, weil der Reifen platzte. Der Hallensprecher stellte als Merkmal besonderer Fairneß fest, daß Merckx/Sercu während der nächsten Minuten keinen Vorteil aus diesem Mißgeschick zu ziehen versuchten. Dann gelang Haritz der entscheidende Rundengewinn. Er gewann mit seinem holländischen Partner Pijnen nach 1740,40 zurückgelegten Kilometern. Wenn es Regie war, so war sie genial.“
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